Schwule und Therapie – welche Rolle spielt dabei toxische Scham? Unten findest Du 3 Fallbeispiele.
Gesunde Scham ist eine wichtige Emotion, die der Psychotherapeutin Julia Belke zufolge uns hilft, unsere Grenzen zu schützen: Wenn wir uns schämen, jemandem etwas mitzuteilen, entschieden wir uns dagegen – und erhalten auf diese Weise unser Gefühl von Sicherheit (Verena König zufolge auch unsere Würde).
Toxische Scham dagegen entsteht Julia Belke zufolge „in unseren frühen Bindungserfahrungen, wenn wir beschämt, erniedrigt, vernachlässigt, missachtet, abgewertet, misshandelt werden“.
Welche Auswirkungen toxische Scham bei schwulen Männern hat (wie sie sich auf andere Teile der queeren Community auswirkt, werde ich zu anderer Gelegenheit beschreiben), wurde von dem Psychologen Alan Down in seinen Videos und insbesondere in seinem Buch „Velvet Rage“ beschrieben. Ihm zufolge gehen die meisten Homosexuellen Männer durch drei Phasen:
1. Phase des Versteckens
Viele Schwule wachsen oder wuchsen in einer Welt auf, die Homosexualität abwertet (s. systemisches Trauma). Dementsprechend haben Homosexuelle in dieser Phase Down zufolge zunächst Angst, schwul zu sein und leugnen es vor sich selbst. Nicht männlich genug zu sein. Und dann irgendwann Angst, aufzufliegen. Tiefe Kränkung.
Nach dem Flussmodell des Somatic Experiencing entsteht hier der Traumavortex. Das Leugnen in der Vor Coming Out Phase erzeugt Stress und geht oft einher Hyperarousal oder Hypoarousal und mit Dissoziation eigener Emotionen und dem Körpergefühl. Homophobe Witze und Sprüche werden weggelächelt (s. Fawn Response) – aus Angst, sonst aufzufliegen. Das erfordert totale Kontrolle nach außen hin. Dr. Payam beschreibt hier, wie sich das auf den Körper auswirkt und wie Somatic Experiencing helfen kann.
2. Phase der Validierung von außen
Nach einer Phase des Leugnens folgt Down zufolge bei vielen schwulen Männern nach dem Coming Out eine Phase der Validierungssuche. Diese dient dazu, sich nach der Leugnungsphase wieder aufzuwerten – zum Beispiel durch Perfektionismus, Statussymbole, beruflichen Erfolg, Attraktivität, Sex, Fitness oder Parties. Dennoch bleibt Down zufolge ein Gefühl innerer Leere und Unzufriedenheit sowie fehlender Zugehörigkeit. Zudem ist diese Phase begleitet von einem Gefühl starker Wut – der Velvet Rage.
Dem Lebensstrom-Modell im Somatic Experiencing zufolge könnte diese Phase als Countervortex zu Phase 1 gesehen werden. Was aus der Phase 1 jedoch bleibt, ist die im Körper gespeicherte Energie der tiefgreifenden Verletzung, die sich in Phase 2 weiterhin als Hyperarousal oder eben Velvet Rage deutlich machen kann.
3. Authentizität
Erst in dieser Phase werden andere Wege als externe Validierung gefunden. Es wird begonnen, mit sich selbst im Reinen zu sein. Down plädiert dafür, sich seiner Scham mit Hilfe von Therapie zugunsten eines erfüllten Leben zu stellen.
Einen ähnlichen scham-dominierten Verlauf im Leben schwuler Männer wie Down beschreibt auch der Psychotherapeut Dr. phil. Tim Kurt Wiesendanger in seinem Buch „Vertieftes Coming Out„.
Toxische Scham bei schwulen Männern – 3 Fallbeispiele
Mit drei Fallbeispielen, die frei erfunden sind, will ich veranschaulichen, wie unterschiedlich sich toxische Scham konkret auf das Leben schwuler Männer auswirken kann und wie sich das auf das autonome Nervensystem auswirkt. Jede Ähnlichkeit mit lebenden Personen ist rein zufällig.
Fallbeispiel 1: Hans-Jochen (57)
Phase 1: Hans-Jochen wächst in den 70er und 80er-Jahren in einem kleine Dorf in Bayern auf. Es gibt noch den Paragraphen $175, der homosexuelle Handlungen unter Strafe stellte. Hans-Jochen ist im Jugendalter, als Aids ein Riesenthema wird. Er bekommt mit, wie diese Krankheit von einigen im Dorf und auch in den Medien als „Schwulen-Pest“ bezeichnet wurde – oder vom Pfarrer in einer Predigt als „Strafe Gottes für die Schwulen“.
Weil er große Angst vor der Reaktion seiner Eltern hat, bringt er es bis zu ihrem Tod nicht über das Herz, ihnen von seiner Homosexualität zu erzählen. Und weil er das Getratsche im Dorf fürchtet, erzählt er auch sonst niemandem davon. Hans-Jochen engagiert sich in der CSU – obwohl diese zu dieser Zeit ebenfalls homophob ist Aber zumindest kann sie das als Tarnung dienen (Flight Response). Im Dorf ist er beliebt – weil er immer extrem freundlich ist und es versucht, allen recht zu machen (s. Fawn-Response).
Phase 2: Mit 35 wird Hans-Jochen Bürgermeister seines Dorfes. So ab dem 40. Lebensjahr beginnt er, ab und zu in Großstädte zu fahren, um dort seine sexuellen Bedürfnisse zu befriedigen (Countervortex). Danach fühlt er sich oft dreckig (s. gay guilt). Doch er fängt an, regelmäßig im Fitnesscenter zu trainieren.
Auch nach dem Tod seiner Eltern schafft er es nicht, jemandem im Dorf von seiner Homosexualität zu erzählen. Er ist zu dem Zeitpunkt 55 Jahre alt. Es fällt ihm schwer, weil er dann der Person gegenüber hätte zugeben müssen, sie und dann ganze Dorf sein gesamtes Leben lang belogen zu haben. Er verachtet er sich dafür, dass er in seinen Augen so feige ist.
Seine sexuellen Abenteuer in Großstädten werden regelmäßiger und wilder – meist fährt er nach Berlin – trotz der Entfernung immer von der Angst begleitet, dass jemand aus dem Dorf ihm dort über den Weg laufen könnte. Er ist stolz auf seinen Sixpack – die meisten anderen Männer in seinem Alter haben keinen. Er beginnt, sich Leder-Outfits zu kaufen, in denen er sich männlicher fühlt. Und er beginnt, Drogen wie G, Crystal Meth und später Monkey Dust zu auf Chemsex-Parties probieren. Die Drogen lassen ihn vergessen, wie sehr er sich verachtet. Dafür zahlt sein Nervensystem den Preis: Unter der Woche leidet er unter Konzentrationsstörungen und Schweißausbrüchen und Erschöpfung.
Phase 3: Hans-Jochen beschließt mit 54, eine Therapie zu machen, nachdem er wegen eines Zusammenbruchs aus einer Cruisingbar mit dem Notarztwagen abtransportiert wird. Neulich hat er sich getraut, seiner besten Freundin im Dorf von seiner Homosexualität zu erzählen.
Fallbeispiel 2: Rapha (40)
Phase 1: Rapha hat eine Kindheit in Hamburg mit ziemlich liebevollen Eltern und auch in der Klasse ist er gut integriert. Dennoch ist er zunächst einige Monate geschockt und durcheinander, als er ahnt, schwul zu sein. Denn auch an seiner Schule gehörten Schimpfworte wie „schwule Sau“ auf dem Schulhof zum normalen Umgangston. Als er eines Abends sich vor seiner Mutter mit 14 outet und diese warm und verständnisvoll reagiert, hat er den Mut, sich auch in seiner Klasse zu outen – die das weitestgehend akzeptiert.
Phase 2: Beleidigt ihn doch mal jemand auf dem Schulhof homophob, weiß er sich zu wehren (Countervortex). Seine Noten verschlechterten sich in Geschichte – was ihn wütend macht, weil er den Geschichts-Lehrerin Homophobie unterstellt. Auch ein anderer Lehrer macht ihm gegenüber einen homophoben Spruch vor der versammelten Klasse. Seine Konflikte mit den Lehrer*innen spornen ihn an, mehr zu lernen (s. Fight Response) – weil er ihnen nicht die Genugtuung geben will, zu versagen. Er wird Klassenbester.
Was bei Rapha jedoch die viel größere Scham auslöst als seine Sexualität ist seine Nationalität. Dass in seinem Land Homosexuelle während des Nationalsozialismus im Konzentrationslager umgebracht wurden, ist für ihn unbegreiflich und es ekelt ihn an, in Deutschland zu wohnen. Er definiert sich nicht als Deutscher, sondern als Mensch. Er spürt Verachtung für Mitschüler, die Fußball-WM schauen und dabei eine Mannschaft anfeuern. Er ist nach wie vor integriert in die Klassengemeinschaft – aber ohnehin sind die meisten ihm zu ungebildet und zu unreflektiert.
Er engagiert sich in der Antifa – wo er häufig aneckt. Er liest häufig Bücher über die NS-Zeit. Als er die Geschichtslehrerin in der Oberstufe erneut bekommt, stellt er ihre Wissenslücken bloß (Velvet Rage). Nach dem Abitur studiert er schließlich Geschichte in Berlin – wo er einen PhD macht. Er geht viel auf Parties und sucht sich Dates – obwohl ihm das irgendwie auch zu blöd ist. Eines Nachts wird er bedroht, als er aus einer Gay Bar kommt – doch er kann entkommen.
Er bekommt eine Stelle als Professor. Und arbeitet viel. Er hat eine Eigentumswohnung, kauft sich Kunstwerke und genießt internationales Renommee in Wissenschaftskreisen. Häufig leidet er an Migräne. Was nicht klappt, sind seine Beziehungsversuche. Die meisten anderen Männer findet er unter seinem Niveau. Ein spanischer Mann bricht ihm schließlich das Herz. Er wendet sich vom Datingleben ab und wird ziemlich einsam – denn die meisten Menschen finden ihn arrogant. Er stürzt sich daher weiter in die Arbeit und engagiert sich nach wie vor gegen Antifaschismus. Er ist frustriert, weil er das Gefühl hat, alles selber machen zu müssen, wenn es gut werden soll. Schließlich bekommt er 2024 einen Burnout.
Phase 3: Rapha probiert nach dem Burnout eine Therapie. Die Therapeut*innen, die er ausprobiert, findet er unterirdisch. Eine von ihnen diagnostiziert ein Imposter-Syndrom. Auch bei der Somatic Experiencing Practitionerin hat er Probleme, sich auf diese einzulassen. Doch irgendetwas passiert in den Sitzungen, was ihm gut tut und ihn entspannen lässt – so dass er beschließt, erst einmal damit weiterzumachen.
Fallbeispiel 3: Daniel (28)
Phase 1: Daniel wächst in Brandenburg auf. Ab der fünften Klasse wird er gehänselt in der Schule wegen seiner „weibischen“ und „schwulen Bewegungen“. Zu seinem Vater hat er ein schwieriges Verhältnis, weil dieser sehr impulsiv ist. Die gesamte Mittelstufe über ist er Außenseiter – auch wegen seiner Hautprobleme. Seine Mitschüler sperren ihn einmal in der Mädchentoilette ein, weil sie finden, dass er dort hingehört. Er wechselt danach vom Gymnasium auf die Oberschule und wird nach der zehnten Klasse Krankenpfleger in einer Berliner Klinik – obwohl er eigentlich immer Arzt werden wollte und auch das Zeug dazu gehabt hätte.
Phase 2: Zu Beginn seiner Krankenpflege-Ausbildung hat er sein Coming Out seinen Eltern gegenüber. Das ist das einzige Mal, dass er seinen Vater weinen sieht. Danach beschimpft dieser ihn. Daniel lebt zurückgezogen. Seine große Freude ist sein Hund (Countervortex). Daniel ist häufig angespannt (Freeze-Response). Auf der Arbeit bleibt er unscheinbar – den männlichen Kollegen geht er insgeheim aus dem Weg (Flight response). Im Pausenraum ist er oft verstört über deren Themen und blöden Witze – und ist froh, dass er anders ist als sie (Velvet Rage).
Er eignet sich in seiner Freizeit ein riesiges medizinisches Wissen an, dass er bereitwillig mit seiner Kollegin Maria teilt. Als diese im Gegensatz zu ihm befördert wird, fühlt er sich ausgenutzt. Einige Jahre später entwickelt er eine Depression und Angststörungen.
Phase 3: Daniel recherchiert nach Therapieformen und findet Somatic Experiencing sinnvoller, als die ganze Zeit nur zu reden und im Kopf zu bleiben. Er lernt, sich wieder sicher zu fühlen, die Vergangenheit loszulassen und die in seinem Körper gespeicherte Energie zu entladen und so seiner Freeze-Response zu entkommen. Er kommt dabei in Kontakt mit gesunder Aggression und hat wieder Spaß am Leben. Sein Selbstwertgefühl wächst. In ihm wächst der Wunsch nach einer Beziehung.
Schwule und Therapie in Berlin
Somatic Experiencing kann dabei helfen, gespeicherte Trauma-Energie in Form von Minority Stress aus dem autonomen Nervensystem zu entladen und ein Gefühl von Sicherheit herzustellen, so dass der ventrale Vagus wieder zum Zuge kommen kann und statt Scham Würde und gesunder Stolz. Eine wichtige Rolle spielt dabei auch das zulassen gesunder Aggression – um auf diese Weise Handlungsfähigkeit und Selbstwirksamkeit zu erleben. Der Weg ist meist langwierig – aber lohnenswert.
Darüberhinaus kann ich Dich mit Ego State Therapie und trauma-sensibler Hypnose unterstützen
Eine Antwort auf „Toxische Scham bei schwulen Männern – 3 Fallbeispiele.“
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