Inwiefern können uns eigentlich Diskriminierung, Benachteiligung, Marginalisierung und Chancenungleichheit traumatisieren, die aufgrund von Machtverteilung, gesellschaftliche Strukturen und daraus resultierenden Dynamiken entstehen? Diese Art des Traumas heißt „systemisches Trauma“ und beschreibt eine durch die Gesellschaft herbeigeführte Traumatisierung. Die Gesellschaft, in der wir leben, wird dabei als System begriffen – mit Sub-Systemen wie Schul- & Bildungssysteme, Gesundheitssysteme, Rechtssysteme, religiöse Systeme, Arbeitgeber, Institutionen und Familiensysteme.
„Ich bin nicht normal“ oder „Ich bin nicht gut genug“ sind Glaubenssätze von Menschen, die durch die Gesellschaft oder ihr Umfeld aufgrund bestimmter Merkmale diskriminiert, unterdrückt oder ausgegrenzt wurden – oder immer noch werden. Diese Merkmale können zum Beispiel sein:
- Sexuellen Identität
- Geschlechtsidentität
- Herkunft / ethnische Zugehörigkeit
- Gesellschaftlichen Status / Einkommens
- Politischen Ansichten
- Ihres Aussehens
- Religion
- Ihres Berufs
- Einer Krankheit
- Neurodivergenz
- Behinderung
- Alter
Die Entstehung von systemischen Trauma
Frei nach der Website complextrauma.org entsteht „systemisches Trauma“ durch den psychischen, emotionalen, wirtschaftlichen, spirituellen, physischen oder sexuellen Schaden, den soziale Systeme oder deren Sub-Systeme bestimmten Personen oder Personengruppen direkt oder indirekt zufügen und kontinuierlich deren Grenzen verletzt. Diese Grenzverletzungen geschieht sich zum Beispiel durch die oben schon angesprochene Diskriminierung (Querphobie, Sexismus, Rassismus, Antisemitismus, Altersdiskriminierung, Bodyshaming, …).
Bildquelle: https://nastad.org/inequities-and-intersectionality
Kennzeichen von systemischen Trauma
Der Somatic Experiencing Trainerin Lael Keen zufolge zeichnet systemisches Trauma sich durch folgende Aspekte aus:
- Eine dominante Mehrheit bestimmt, was „normal“ ist (Beispiel: Das Wahlkampfmotto „Deutschland – aber normal“ der AfD)
- Mangel an Gelegenheiten / Chancenungleichheit (Beispiel: berufliche oder andere Nachteile queerer Menschen, von trans*Menschen oder Frauen)
- Angst vor Aggression / Gewalt der dominanten Klasse oder Gruppe (Beispiel: Angst vor queerfeindlicher Gewalt)
- Transgenerationales Trauma (Beispiel: Schuldgefühle wegen der Nationalität aufgrund des Nationalsozialismus)
Häufig steht das Trauma in Zusammenhang mit schwierigen Emotionen wie Angst, Einsamkeit, Hilflosigkeit und vor allem auch Scham – denn oft werden / wurden Betroffene von den Systemen, von denen sie Teil sind oder waren beschämt.
Folgen von systemischen Trauma
Reaktionen auf systemisches Trauma können – wie bei allen Traumaformen – FIGHT, FLIGHT, FREEZE oder FAWN Reaktionen sein.
Hier habe ich beschrieben, wie diese Traumafolge-Reaktionen sich im Körper bzw. im autonomen Nervensystem auswirken. Und welche Symptome auftreten können, wenn die Traumatisierungen so stark sind, dass das Nervensystem sich nicht mehr selber regulieren kann.
Betroffene fehlt oft ein Gefühl von Sicherheit. Sie sind zum Beispiel ständig auf der Hut – was Stress erzeugt, ihre Resilienz mindert und Entspannung erschwert. Es fällt ihnen scher, sich auf andere einzulassen – weil der Teil des autonomen Nervensystems, der für Social Engagement zuständig ist – der ventrale Vagus – nicht zum Zuge kommt. Dieses erschwert zudem ein Zugehörigkeitsgefühl bei Betroffenen – welches ohnehin aufgrund von Ausgrenzungserfahrungen und Scham beeinträchtigt ist. Dementsprechend kann es Betroffenen schwer fallen, Nähe zuzulassen.
Oft ahnen Betroffene nicht, wie sehr ihre Erfahrungen von Ausgrenzung, nicht dazuzugehören, anders zu sein sie traumatisiert, weil sie zum Beispiel erfolgreich sind – sie einen Countervortex aufgebaut haben.
Wege der Veränderung
Somatic Experiencing kann die Selbstregulation des Nervensystems steigern, so daß trotz der Traumatisierungen Betroffenen nicht in deren Folgereaktionen verharren, sondern durch die Wiederherstellung von Grenzen und Sicherheit, Zugehörigkeit und Würde der ventrale Vagus-Nerv wieder zum Zuge kommt – so daß wieder soziale Interaktion, Spaß, Lebendigkeit und Entspannung möglich sind. Für eine Überwindung des Traumas ist es dabei unter anderem wichtig zu erkennen, welche dieser Systeme und Sub-Systeme traumatisierend wirkten.
Traumaexperte Richard D. Smith zufolge ist der erste Schritt zu Veränderung, die Ohmacht in gesunde Aggression umzuwandeln – z.B. durch Graswurzel-Aktivismus.
Noch ein Wort zu mir:
Weil ich ein schwuler Cis-Mann bin, kommen insbesondere queere Menschen in meine Praxis. Aber selbstverständlich sind alle Menschen willkommen, die ihr systemisches Trauma aufarbeiten wollen. Mehr über mich findest Du hier.
Traumatherapie & Coaching in Kreuzberg
Buche einen Termin online
Weitere Kontaktmöglichkeiten:
3 Antworten auf „Systemisches Trauma – wenn Du nicht „normal“ bist.“
[…] viele trans* Personen mit systemischen Trauma mag Kim Petras wie ein Countervortex wirken. Für viele Schwule Jugendliche in den 90ern war es […]
[…] Umwelt-Faktoren: Eine individualistische Gesellschaft erzeugt mehr Perfektionisten (s. systemisches Trauma) […]
[…] Schwule wachsen oder wuchsen in einer Welt auf, die Homosexualität abwertet (s. systemisches Trauma). Dementsprechend haben Homosexuelle in dieser Phase Down zufolge zunächst Angst, schwul zu sein […]