Perfektionismus überwinden

Perfektionismus überwinden – aber wie? Dem Psychologen Nils Spitzer zufolge handelt es sich beim Perfektionismus um den Wunsch nach Exzellenz, der auf der Definition von Shafran basiert. Diese besagt, dass perfekte Zustände existieren und Menschen danach streben sollten, sie zu erreichen. So glauben Betroffene häufig, es sich nicht leisten zu können, im Job Fehler zu machen. Im Umgang mit anderen Menschen. Oder in Hinblick auf ihre Außenwirkung.

Drei Kriterien zeichnen Spitzer zufolge klinischen Perfektionismus aus:

• Extrem überhöhte Maßstäbe
• Starre Maßstäbe, von denen selbst bei negativen Konsequenzen nicht abgelassen werden kann
• Erfolgsabhängiger Selbstwert / Abwertung bei Nichterfüllung der Maßstäbe

Folgen

Obwohl klinischer Perfektionismus nach ICD-10 keine psychische Beeinträchtigung oder Krankheit darstellt, ist er in Studien mit schlechterer körperlicher Gesundheit (insbesondere Erschöpfung, Schlaflosigkeit und allgemeiner Anspannung), Depressionen, sozialen Phobien, Panikstörungen, Zwängen und Essstörungen korreliert. Er kann sowohl als Ursache für psychische Beeinträchtigungen dienen als auch diese aufrechterhalten. Darüber hinaus wird klinischer Perfektionismus von Spitzer als sogenannter transdiagnostischer Faktor betrachtet, der als Kernursache verschiedener psychischer Störungen fungiert.

Der ständige Drang, übertrieben hohe Standards zu erreichen, führt zu immerwährendem Grübeln und Selbstkritik. Besonders wegen der starken Angst vor Fehlern haben Betroffene oft Schwierigkeiten, Entscheidungen zu treffen. Aufgaben werden häufig aufgeschoben und Spontaneität fehlt. Darüber hinaus leiden sie stärker unter Stress, was für Nils Spitzer eine Verbindung zwischen Perfektionismus und psychischen Störungen darstellt. Die Vorahnung möglicher Fehler erzeugt zusätzlichen Stress sowie Bewältigungsstrategien klinischer Perfektionisten, wie beispielsweise Selbstvorwürfe.

3 Bereiche:

Perfektionismus kann sich Spitzer zufolge auf unterschiedliche Weise äußern:

• Selbstgerichtet: Perfektionistische, selbstgesetzte Maßstäbe an sich selber.
• Nach außen-gerichtet: Perfektionistische Maßstäbe an das Handeln anderer zu legen.
• Sozial: (Sngenommene) Maßstäbe anderer in perfektionistischer Weise erfüllen zu wollen. Betroffene können im Gegensatz zu selbstgerichteten Perfektionist*innen auch Erfolge nicht genießen.

Perfektionismus kann sich in einzelnen oder mehreren Lebensbereichen äußern.

Ursachen:

Ursachen können Spitzer zufolge sein:

• Eltern-Faktoren: Autoritäre Eltern und Androhung von Konsequenzen bei Fehlern begünstigen Perfektionismus.
• Kind-Faktoren: Kinder mit großer Internalisierungsfähigkeit sind anfälliger für Perfektionismus als ihr Umfeld.
• Umwelt-Faktoren: Eine individualistische Gesellschaft erzeugt mehr Perfektionisten (s. systemisches Trauma)

Zu ergänzen wäre, dass es unter Umständen eine traumatische Lebensphase gab, in der es nötig war, keine Fehler zu machen – weil das bedrohlich gewesen wäre. Perfektionismus ist in dem Fall eine Flight Response von oder Fight Response gegen die Gefahrenquelle – meist gepaart mit einer Freeze Response in Form von Scham.

Es könnte hinzugefügt werden, dass es möglicherweise eine traumatische Phase im Leben gab, in der es wichtig war, keine Fehler zu machen, da dies bedrohlich gewesen wäre. In diesem Fall ist Perfektionismus eine Fight- oder Flight-Reaktion auf die Gefahrenquelle – oft begleitet von einer Freeze-Reaktion in Form von Scham und Angst vor negativen Folgen bei Fehlern.

Ausprägung bei queeren Menschen

Viele queere Menschen versuchen versuchen häufig, in einem oder mehreren Bereichen möglichst unfehlbar zu sein – um keine Angriffsfläche für Hänseleien zu bieten. Ihr Perfektionismus ist der Versuch, Kontrolle zu behalten.

In einer Umfrage unter einer Gruppe von queeren Menschen untersucht Victoria Federico, eine Neurowissenschaftlerin, den Zusammenhang zwischen dem Grad des Perfektionismus und der mentalen Gesundheit sowie Minority Stressoren. Wie Spitzer unterscheidet sie zwischen sozialem und selbstgerichtetem Perfektionismus. Jedoch nennt sie – angelehnt an die „Big Three“ Skala – einen weiteren Untertyp, nämlich den narzisstischen Perfektionismus, bei dem Betroffene davon überzeugt sind, perfekt zu sein. Sie stellt fest, dass der Grad des Perfektionismus mit Minority Stressoren und psychischen Problemen korreliert.

Therapie:

Nils Spitzer Therapieziele bestehen darin:

1. die hohen Maßstäbe zu hinterfragen,
2. die starren Maßstäbe zu flexibilisieren
3. erfolgsunabhängigen Selbstwert zu steigern

Im Somatic Experiencing kann das autonome Nervensystem lernen, dass es das Trauma nicht mehr mit den Fight-, Flight- und Freeze-Reaktionen bewältigen muss. Das Trauma wird einer neuen Verhandlung unterzogen, so dass das System nicht mehr darin verharrt, sondern im Hier und Jetzt ankommen kann. Das autonome Nervensystem beruhigt sich, und die starren und hohen Maßstäbe werden reduziert. Ängste und Scham werden abgebaut, und der Selbstwert wird von der Leistungsorientierung entkoppelt.

In der Ego State Therapie würde beispielsweise der innere kritische Anteil bearbeitet werden. Dabei wird entweder in Trance oder mit offenen Augen die Funktion des kritischen Anteils erkannt und geschätzt. Zudem wird er mit anderen ressourcenreichen Anteilen verknüpft, sodass er weniger dominierend ist. Das innere Kind wird durch eine korrigierende Erfahrung geheilt, indem ihm das gegeben wird, was es während der traumatischen Lebensphase gebraucht hätte.

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