Minority Stress bezeichnet dem Center for Community Practice zufolge den zusätzlichen Streß, den marginalisierte Gruppen erfahren aufgrund von Vorurteilen und Diskriminierung. Das Modell versucht zu erklären, wie Diskriminierung marginalisierter Gruppen zu zu schlechterer Gesundheit führen kann.
Während viele Menschen Streß im Job erleben können, kann dem Center zufolge zum Beispiel für sexuelle Minderheiten zusätzlicher Streß dadurch entstehen, dass sie im Job z.B. Angst oder Bedenken haben, von ihrer Partnerschaft oder ihrem queeren Lifestyle zu erzählen. Minority Streß ist einzigartig, weil er nicht von allen Personen erfahren werden kann. Dem Center zufolge ist Minority Streß allgegenwärtig für Betroffene, weil sie stets auf der Hut sein müssen vor einem dummen Spruch, einem blöden Witz, Ausgrenzung, Diskriminierung oder Benachteiligung.
Hier lässt sich die Verbindung zu systemischen Trauma ziehen – denn Stressoren können in jedem der Systeme lauern, denen Betroffene angehören. Nicht jeder dieser Stressoren mag traumatisierend wirken – aber einige haben eben doch das Potential dazu.
Minority Stress durch queerphobe Gewalt
Ein wichtiger Stressor mit hohem Traumatisierungs-Potential für queere Menschen sind queerphobe Übergriffe – entweder aus eigener Erfahrung oder aber aufgrund des Wissens darüber.
Dem Bundesministerium für Familie zufolge sind die Zahlen der Gewaltdelikte steigend: 2022 gab es im Unterthemenfeld „sexuelle Orientierung“ 1005 Straftaten (davon 227 Gewaltdelikte) und im Unterthemenfeld „geschlechtliche Diversität“ 417 Straftaten (davon 82 Gewaltdelikte). Das sind nur die angezeigten Taten – die Dunkelziffer liegt deutlich höher.
In einer Befragung (2011) des Instituts für Psychologie der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel unter der Leitung von Dr. Anne Bachmann unter 1042 schwulen Männern gaben 28% an, Opfer von Gewalt zu sein. 68% gaben an, Erfahrung mit Belästigung und Bedrohung zu haben.
Minority Stress durch Diskriminierung
Der Website Therapy Hub zufolge sind nicht nur nicht nur die großen Gewaltakte Quelle von Minority Stress, sondern auch die täglichen Mikro-Agressionen zu nennen, denen Betroffene im tagtäglichen Leben begegnen. Ein Aspekt davon ist Diskriminierung und Benachteiligung.
So fasst die Studie „Benachteiligung von Trans*Personen, insbesondere im Arbeitsleben“ (2021) die internationale Studienlage zu Diskriminierung von trans* Personen wie folgt zusammen: Internationale Studien belegen, dass trans* Personen in allen Bereichen des täglichen Lebens massiven Diskriminierungen ausgesetzt sind. Im Arbeitsleben sind diese besonders ausgeprägt und reichen von Benachteiligung beim Zugang zum Arbeitsmarkt und bei Karrierechancen über Ablehnung und Belästigungen bis hin zu Gewalt.
trans* Personen sind überdurchschnittlich häufig von Arbeitsverlust, Arbeitslosigkeit sowie Armut betroffen und arbeiten sehr oft unter ihren Qualifikationen. Sie berichten von transphoben Verhaltensweisen von Kolleg*innen und Vorgesetzten sowie struktureller Benachteiligung durch den institutionalisierten medizinischen und juristischen Umgang mit Trans*geschlechtlichkeit.
Minority Stress durch Stigmatisierung und Vorurteile
Auch Stigmatisierung und Vorurteile erzeugen Minority Stress – nicht nur in Verbindung mit Diskriminierung und Gewalt.
In einer nationalen Telefonbefragung im Jahre 2016 des sozialwissenschaftlichen Umfrage-Zentrums (SUZ) im Auftrag der Antidiskriminierungsstelle (2017) hatten 20% der 2000 befragten Personen über 16 Jahren fragwürdige Einstellungen gegenüber trans* Personen. Hier wurden Korrelationen zu Homophobie festgestellt: Wer die eine Gruppe ablehnt, lehnt mit höherer Wahrscheinlichkeit auch die andere Gruppe ab.
Während traditionelle Homophobie nur bei 12% der Befragten festgestellt wurde (indem sie diese als unnatürlich oder nicht gleichberechtigt ansahen), wurden indirektere Formen von Homophobie bei über 44% der Befragten. festgestellt (indem sie z.B. Darstellung von Homosexualität in Medien und der Öffentlichkeit ablehnten).
Ilan H. Meyer (2007) zufolge sind Stigmata und Vorurteile gängige Erklärung von Forscher*innen wie z.B. Friedmann (1999) für geringe mentaler Gesundheisprobleme von LGB Personen wie Substanzmißbrauch, affektive Störungen und Selbstmord (Cochran, 2001; Gilman et al., 2001; Herrell et al., 1999; Sandfort, de Graaf, Bijl, & Schnabel, 2001).
Dass Stigmata und Vorurteile stressreich sind, wurde ihm zufolge insbesondere für Gruppen, die durch Rasse/Ethnizität und Geschlecht definiert sind, belegt (Barnett & Baruch, 1987; Mirowsky & Ross, 1989; Pearlin, 1999b; Swim, Hyers, Cohen, & Ferguson, 2001) oder für Gruppen mit stigmatizierenden Merkmalen wie stark übergewichtige Personen (Miller & Myers, 1998) oder Personen mitstigmatisierenden Krankheiten wie AIDS oder Krebs (Fife & Wright, 2000).
Erst in jüngerer Zeit wurden ihm zufolge solche Erfahrungen explizit in psychologische Stressmodelle integriert (Allison, 1998; Miller & Major, 2000).
Auch eine irische Studie (Kelleher, 2009) kommt zu dem Schluss, dass Erfahrungen von n Verbindung mit hohen Selbstmordraten gebracht wird ( Stigmatisierung und Vorurteilen das Leben irischer LGBT Personen prägt und es wird ein Zusammenhang zu Suizidalität gesehen (Johnson, Faulkner, Jones & Welsh, 2007).
Minority Stress durch Marginalisierung
Eddy M. Elmer, Theo van Tilburg & Tineke Fokkema fassen in ihrer Studie „Minority Stress and Loneliness in a Global Sample of Sexual Minority Adults: The Roles of Social Anxiety, Social Inhibition, and Community Involvement“ aus dem Jahr 2022 den Forschungsstand wie folgt zusammen: In diversen Studien konnte gezeigt werden, dass Marginalisierung – wie beispielsweise Ablehnung durch die Familie – sowie internalisierte Homonegativität und eine erhöhte Empfindlichkeit gegenüber Ablehnung eng mit sozialer Unsicherheit verknüpft sind. Pachankis et al. (2008) stellten fest, dass Menschen, die Marginalisierungserfahrungen machen, häufig weniger selbstbewusst im sozialen Kontext auftreten, was als soziale Inhibition bezeichnet wird.
Eine weitere Untersuchung von Feinstein et al. (2012) fand heraus, dass Marginalisierung indirekt mit sozialer Angst assoziiert ist und dabei durch internalisierte Homo-Negativität und Sensibilität für Ablehnung vermittelt wird. Ein tägliches Tagebuch, das von jungen schwulen und bisexuellen Männern geführt wurde, verdeutlichte zudem, dass elterliche Ablehnung das Maß an öffentlichem Selbstbewusstsein bestimmt – was wiederum zusammen mit dem Bedürfnis nach Verschleierung der sexuellen Orientierung den Zusammenhang zwischen Angst und der Mißbilligung durch die Eltern beinflußt (Pachankis & Bernstein, 2012).
Elmer et al. (2022) führten zudem 2016 eine eigene globale Umfrage 2016 mit unter 7856 queeren Menschen aus 85 Ländern durch. Die Umfrageergebnisse bestätigen, dass gesellschaftliche Ablehnung und Stigmatisierung nach wie vor allgegenwärtig sind. Diese äußere Ablehnung führt zu unterschiedlichen Formen von Marginalisierung, einschließlich Belästigung, Mobbing, Diskriminierung, Mikroaggressionen und familiärer Zurückweisung.
Solche negativen Erfahrungen tragen maßgeblich zu einem „proximalen“ Minority Stress bei – also zu psychologischen Reaktionen wie Selbststigmatisierung, Empfindlichkeit gegenüber Ablehnung und dem Bedürfnis, die sexuelle Orientierung zu verbergen. Diese Reaktionen erschweren es Betroffenen oft, stabile und befriedigende soziale Beziehungen aufzubauen und zu pflegen. Andere dagegen reagieren auf Marginalisierung ihrer Ansicht nach, jetzt erst recht offen und stolz ihre sexuelle Orientierung zu zeigen.
Minority Stress & verinnerlichte Queerphobie und Transnegativität
Verinnerlichte Queerphobie“ bezeichnet Abneigung gegenüber des eigenen Geschlechts oder der eigenen Sexualität – die mit toxischer Scham einhergeht. Queerphobie korreliert mit der Abnahme von Selbstmitgefühl: In einer Studie (2011) der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel unter Homosexuellen waren diejenigen Befragten, bei denen auf internalisierte Homophobie aufgrund ihres Antwortverhaltens geschlossen wurde, waren am wenigsten betroffen über ihre Diskriminierungs-Erfahrungen.
In der 2023 durchgeführten Befragung unter 243 deutschen und Schweizer trans*, inter* und nichtbinärer Personen wurden positive Zusammenhänge zwischen internalisierter Transnegativität und Angst- und depressiver Symptomatik festgestellt.
Elmer et al. (2022) untersuchten zudem die Auswirkungen einer hohen negativen Affektivität und Marginalisierung. Menschen mit hoher negativer Affektivität haben ihnen zufolge ein negatives Bild von sich selbst und anderen und neigen dazu, harmlose oder mehrdeutige Situationen als im Zweifel als negativ oder bedrohlich wahrzunehmen. Negative Affektivität korreliert inen zufolge mit Marginalisierung. Diese erhöhte Wahrnehmung von Ablehnung und Feindseligkeit könnte die Entstehung von Einsamkeit verstärken und die Fähigkeit zu Social Engagement oder zu stabilen Beziehungen beeinträchtigen. Je nach individuellen Ressourcen und Unterstützungssystemen kann sich negative Affektivität unterschiedlich stark auswirken.
Stress im Körper
Während weiter oben schon darauf hingewiesen wurde, dass Minority Stress mit hohen Selbstmordraten, Substanzmißbrauch und affektiven Störungen in Zusammenhang gebracht wird, wird in einer weiteren Studie (Oshana et al., 2020) ein Zusammenhang zu Dismorphophobie festgestellt.
Eine Meta-Studien-Analyse (Flentje et al., 2019) von PubMed Studien zum Thema Minority Stress aus den Jahren 2016 bis 2018 stellt einen signifikanten Korrelation zwischen Minority Stress bei sexuellen Minderheiten und biologischen Outcomes her. Der Studie zufolge steht Minority Stress unter anderem in Zusammenhang mit der körperlichen Gesundheit, Atemwegs-Infektionen, einer schwächeren Immunantwort, Veränderungen der kardiovaskulären Funktion, dem BMI, dem Cortisol-Level sowie der Krebs-Inzidenz. Eine akute Exposition gegenüber einem Minoritätsstressfaktor bewirkte zudem sofortige Veränderungen in den Blutzellzahlen.
Flentje et al. zeigen in diesem Modell den Zusammenhang zwischen Minority Stress und Gesundheit.
Minority Stress entladen mit Somatic Experiencing
Somatic Experiencing kann helfen, den Stress des autonomen Nervensystems zu entladen und Traumata neu zu verhandeln – so auch bei systemischen Trauma und Minority Stress. Zu Beginn geschieht das meist dadurch, dass der Körper sich wieder an ein Gefühl von Sicherheit gewöhnt und einen Weg aus Traumafolgereaktionen wie FIGHT, FLIGHT, FREEZE und FAWN findet.
Dr. Payam Ghassemlou beschreibt das Vorgehen von Somatic Experiencing bei Minority Stress folgendermaßen: ”For those of us who have had painful struggles with homophobia, life after the closet needs to include dealing with memories of homophobic mistreatment that can lie dormant in our body. Recovery from it needs to start with resourcing and then progressing to completing the thwarted responses of fight, flight, or freeze. Such healing can reset the nervous system and restore inner balance. In Body Keeps the Score, Dr. Bessel van der Kolk writes about a body-centered approach to healing which allows ‚the body to have experiences that deeply and viscerally contradict the helplessness, rage, or collapse that result from trauma.'“